«Auch Algorithmen müssen grundsätzlich öffentlich sein»

Macht mit dem Gesetz im Rücken Druck auf die Verwaltung: Datenjournalist Grossenbacher.

MAKING-OF Timo Grossenbacher, Journalist bei SRF Data, hat den Algorithmus herausverlangt, mit dem Rückfälle bei Straftätern minimiert werden sollen. «Man sollte sich nicht abwimmeln lassen», sagt er.

Das Informatik-Tool wird bis Ende 2018 in der ganzen Deutschschweiz operativ sein – als Teil einer neuen «Null-Risiko-Politik» im Strafvollzug. Dabei werden Straftäter in Risikoklassen eingeteilt. «Kann man rückfallgefährdete Personen wirklich mit Informatik entlarven?», wollten die  SRF-Datenjournalisten wissen. Die Antwort fanden sie mithilfe des Zürcher Informationsgesetzes. 

Die Wende hatte der «Mord vom Zollikerberg» im Jahr 1993 gebracht. Damals war ein vorbestrafter Gewalttäter im Freigang rückfällig geworden. Er hatte im Wald eine junge Frau überfallen und umgebracht. Die unter Druck geratenen Behörden schafften sich eine Software an, mit der Informationen zum aktuellen Delikt und zu allen Vorstrafen verarbeitet werden. Nach nur 20 Minuten ist ein Straftäter mithilfe eines Algorithmus in eine von drei Rückfallrisiko-Gruppen eingeteilt. 

Timo Grossenbacher und sein Arbeitskollege Christof Schneider wollten mehr über den Mechanismus der Software wissen. Sie verlangten – gestützt auf das Zürcher Informationsgesetz (IDG) – den Algorithmus heraus, mit dem die Software arbeitet. Die Daten-Journalisten stellten fest, dass die Behörden diesen Ende 2017 angepasst hatten. Seit diesem Zeitpunkt werden Delikte im Bereich häuslicher Gewalt und jugendanwaltschaftliche Einträge weniger stark gewichtet. Obwohl Kritiker an der Zuverlässigkeit der Bewertungstools zweifeln,  will die Zürcher Verwaltung – und damit alle Deutschschweizer Kantone – weiterhin auf das Tool setzen.

Timo Grossenbacher, wie kommt man auf die Idee, von der Verwaltung den Algorithmus einer Software zu verlangen?

Unsere Recherchen zur «grossen Screeningmaschine» haben wir mit einem sehr allgemeinen Ansatz begonnen. Erst im Gespräch mit einem Mitarbeiter des Zürcher Amts für Justizvollzug kamen wir auf die Idee, das Dokument mit dem Algorithmus, das Schema, mit dem die Gefährlichkeit von Straftätern beurteilt wird, zu verlangen. Die Antwort war negativ. Der Verwaltungsangestellte argumentierte, ein Zugang zum Dokument sei nur im Rahmen einer wissenschaftlichen Arbeit möglich. 

Hat Sie diese klare Durchsage abgeschreckt? 

Nein. Uns war bewusst, dass die Öffentlichkeit wissen darf, wie ein solches Werkzeug funktioniert. Ausserdem ist es von den Behörden entwickelt und danach in der ganzen Deutschschweiz eingeführt worden. Knackpunkt war, dass dieser Algorithmus zwar schon seit fünf bis sechs Jahren existiert, aber erst in den letzten paar Jahren in eine Online-Applikation übertragen wurde. Dafür beauftragten die Zürcher Behörden ein Unternehmen. Ein privates Unternehmen will seine Geschäftsgeheimnisse schützen, das kann ein Abwimmelungsgrund sein. Deswegen fragten wir bei den Behörden nach dem Mandat, das sie diesem Unternehmen gegeben hatten. Wir verlangten die sogenannte Anforderungsspezifikation heraus. Gut für uns war, dass der eigentliche Algorithmus nicht unter dem Geschäftsgeheimnis dieser Firma stand, da ihn ja die Behörde entwickelt hat.

Wie haben die Behörden reagiert?

Wir haben den Antrag Anfang Mai eingereicht. Er blieb unbeantwortet. Nicht einmal eine Eingangsbestätigung haben wir erhalten. Kurz vor der Veröffentlichung unseres Berichts Mitte Juni trafen wir uns erneut mit den Justizbehörden. Während dieses Interviews hat man uns das Dokument dann überreicht. Es steckte in einem frankierten Umschlag und hätte noch gleichentags abgeschickt werden sollen. Wir waren, nach dem langen Schweigen, von diesem seltsamen Zufall sehr überrascht. 

Das 23-seitige Dokument, das Sie erhielten, ist als internes Material bezeichnet.

Das hat uns auch überrascht. Das Dokument ist eigentlich nicht sehr brisant, aber ein öffentliches Interesse ist schon gegeben. Als die Behörden uns Umschlag mit dem Dokument überreichten, gaben sie sich jovial und sagten: Selbstverständlich ist das öffentlich.

Welches Fazit ziehen Sie aus dieser Erfahrung?

Man sollte sich nicht abwimmeln lassen. Die Chance, ein Dokument zu erhalten, hängt davon ab, wie und bei wem die Anfrage gestellt wird. In unserem Fall war der offizielle Weg erfolgreich.

Werden Sie daher diese Gesetze in Zukunft systematischer einsetzen?

Für uns Datenjournalisten war das eine sehr ermutigende Erfahrung. Jetzt haben wir die Gewissheit: Nicht nur Dokumente, auch Daten und Algorithmen, die von Behörden entwickelt werden, müssen grundsätzlich öffentlich sein. Selbst wenn ein privates Unternehmen involviert ist. Das motiviert mich, in Recherchen auch künftig Öffentlichkeitsgesetze einzusetzen.

Werden Sie auch vor Gericht für den Zugang zu Daten kämpfen?

Es kann sich schon lohnen, mit rechtlichen Mitteln Druck auszuüben. Auf keinen Fall sollte man nach einer ersten Ablehnung aufgeben. Je mehr Journalisten mit den Öffentlichkeitsgesetzen arbeiten, desto mehr geraten auch diejenigen Kantone und Gemeinden unter Druck, die heute noch kein Öffentlichkeitsprinzip kennen. 

Was muss sich bei der Umsetzung der Öffentlichkeitsgesetze verbessern?

Einige Gremien, beispielsweise Ombudsstellen, sind Grauzonen. Es ist nicht klar, ob sie den Öffentlichkeitgesetzen unterstellt sind. Auch Kantone, die das Geheimhaltungsprinzip noch kennen, sind für uns Datenjournalisten problematisch. Wir fragen die Kantone ja oft flächendeckend nach Zahlen und bekommen die Daten dann nur unvollständig. In unseren Artikeln erwähnen wir dann immerhin, welche Kantone nicht geliefert haben. Es ist auch ein Druckmittel.

Interview: Julia Rippstein